Ob die auf Umlageverfahren basierenden Pensionssysteme in Europa in Zukunft finanzierbar sein werden, gehört zu den heißesten Themen der letzten Monate. Tatsächliche und akute Finanzierungsprobleme von Umlageverfahren gibt es aber in ärmeren Ländern. Etwa in Nigeria: Anfang Mai warteten ehemalige Bedienstete mehrerer Universitäten bereits seit 17 Monaten auf ihre Pensionen; gleichzeitig fehlt der Regierung in Abuja eine Mrd. US-Dollar, um die Pensionsverpflichtungen der Staatsbetriebe abzudecken. In Indien wird es ab Oktober für neu eintretende öffentlich Bedienstete keine feste Pension, sondern nur mehr ein Kapitaldeckungssystem ohne staatliche Garantie geben; und in Russland erhielt Präsident Wladimir Putin im Februar ein besonderes Geschenk: einige tausend PensionistInnen schickten ihm aus Protest jene 31 Rubel (0,9 Euro) zu, um die ihre Pensionen erhöht wurden – die durchschnittliche russische Pension beträgt 45 Euro.
Heiß her geht es auch in Brasilien. Dort versucht die Regierung unter Präsident Lula da Silva eben, gegen heftigen Widerstand auch aus der eigenen Arbeiterpartei (PT) eine Pensionsreform durch den Kongress zu bringen. Hauptgrund: Ehemalige öffentliche Bedienstete, bloß fünf Prozent der PensionistInnen, beziehen fast die Hälfte der gesamten Pensionszahlungen. Ihre Pensionen verursachten im letzten Jahr ein Defizit von rund 19 Mrd. Dollar oder mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), unter anderem eine Folge hoher Ersatzleistungen (100 Prozent des zuletzt bezogenen Grundgehalts), geringer Beiträge (derzeit sind nur zehn Beitragsjahre erforderlich) und eines niedrigen Mindestalters für den Pensionsantritt: 53 für Männer und 48 für Frauen.
Das brasilianische Pensionssystem erscheint selbst aus Sicht reicher Länder als zu großzügig ausgelegt. Mehrheitlich sind die Pensionsprobleme aber auf die prekäre finanzielle Lage des öffentlichen Sektors in vielen Entwicklungsländern zurückzuführen, die wiederum auf einer ganzen Reihe von Faktoren beruht: Schuldendienst, strukturelle Anpassungsprogramme, sinkende Zolleinnahmen aufgrund der Handelsliberalisierung, ineffiziente Steuersysteme, Korruption oder einfach zu geringes Wirtschaftswachstum. Allein der internationale Steuerwettbewerb und die Nutzung von Steueroasen könnte die Entwicklungsländer einen Betrag kosten, der die jährliche öffentliche Entwicklungshilfe übersteigt, schätzt Intertax, ein internationales NGO-Netzwerk, das sich für mehr Steuergerechtigkeit einsetzt.
Vor diesem Hintergrund ist vor allem die Einführung kapitalgedeckter, privat verwalteter Pensionssysteme in Entwicklungsländern umstritten, ob als einziges System oder als verpflichtende oder freiwillige zusätzliche Komponente neben einem Umlageverfahren. Der Prozess begann vielleicht nicht zufällig in Chile 1981 unter der Militärdiktatur, wo das frühere Umlageverfahren zur Gänze durch ein Kapitaldeckungsmodell ersetzt wurde. Später folgten andere Länder Lateinamerikas sowie zahlreiche Staaten in Osteuropa und der früheren Sowjetunion, wobei die Weltbank besonders seit 1994 prominent an diesem Prozess beteiligt war. Länder wie Argentinien und Uruguay mit einer relativ alten Bevölkerung dienen dabei als Versuchskaninchen für Reformen in reichen Ländern. Allerdings kam es auch zu gegenläufigen Prozessen, etwa in Nigeria und Indonesien, wo anstelle staatlich verwalteter Vorsorgefonds Umlageverfahren eingeführt wurden – in Nigeria als Reaktion auf notorischen Missbrauch der im Fonds akkumulierten Gelder; in anderen Ländern wie Angola, Mosambik, Simbabwe, Oman und Guatemala wurden überhaupt neue Umlagesysteme eingeführt.
Über die neuen Kapitaldeckungssysteme lässt sich noch kein abschließendes Urteil fällen. Dass sie abgesehen von oft hohen, renditefressenden Verwaltungskosten nicht krisensicher sind, zeigte sich in Argentinien, wo 1994 eine Teilumstellung auf Kapitaldeckung erfolgte. Da die erworbenen Pensionsansprüche aus dem Budget bezahlt wurden, die Beiträge aber in das neue Pensionssystem flossen, ergaben sich zusätzliche Budgetlöcher, die zu einer wesentlichen Ursache des Finanzkollaps wurden. Darüber hinaus müssen die Pensionsgelder in Argentinien zu 90 Prozent in lokale Aktiva investiert werden, und diese bestanden überwiegend aus argentinischen Staatsanleihen. Bei solchen Vorgaben könne ein Kapitaldeckungsmodell „keine bessere Qualität aufweisen als das Land, das es beherbergt“, bilanzierte die Aufsichtsbehörde der argentinischen Pensionsfonds.
Hohe Anteile von Staatsanleihen sind aber bisher die Regel. In Lateinamerika etwa schwanken die Anteile von Staatsanleihen in Pensionsportfolios zwischen weniger als 40 Prozent (Chile) und 90 Prozent (Mexiko). Auch die neuen Pensionsfonds in Russland könnten fast ausschließlich in russische Staatsanleihen investieren. Das Resultat ist eine Art „Scheinprivatisierung“ der Pensionsvorsorge: Denn so ist es wiederum die Regierung, die das Kapital aus dem allgemeinen Steueraufkommen bereitstellen muss – neben der garantierten staatlichen Mindestpension, Bestandteil praktisch aller Pensionsreformen in Lateinamerika.
Letztlich leiden aber die Kapitaldeckungssysteme – genau wie Umlageverfahren – an den Strukturproblemen der jeweiligen nationalen Wirtschaft. Der Anteil der Beitragzahlenden ist niedrig, zum Teil mit sogar sinkender Tendenz, weil viele einfach zu wenig oder zu unregelmäßig verdienen. Und was in Lateinamerika problematisch ist, die fehlende universelle Erfassung, ist es in weiten Teilen Asiens und Afrikas aufgrund des hohen Anteils der ländlichen Bevölkerung, der Arbeitslosigkeit und der großen Bedeutung des informellen Sektors noch weit mehr. Beitragsfinanzierte Pensionssysteme, ob Kapitaldeckung oder Umlageverfahren, erfassen nur einen geringen Teil der Bevölkerung im Erwerbsalter, selbst in China (siehe Tabelle).
Traditionell war die Mehrheit der alten Menschen stets auf Solidarität der Familie oder der Gemeinschaft angewiesen. Doch dieses „Sozialkapital“ ist überall am Schwinden: Migration in die Städte und ins Ausland ist ein Faktor, Arbeitslosigkeit der Kinder ein weiterer. Auch sinkende Kinderzahlen – insbesondere in China als Folge der Ein-Kind-Politik – untergraben diese Strukturen. Ein arbeitsfreies Leben im Alter ist für die meisten alten Menschen in armen Ländern illusorisch – sie müssen weiter arbeiten, so lange sie können, und stehen insbesondere bei Gesundheitsproblemen oft schutzlos da.
In Entwicklungsländern stellt sich daher nicht nur die Aufgabe, die Finanzierbarkeit bestehender Pensionssysteme zu sichern, sondern Vorsorgemodelle auf möglichst viele Menschen auszudehnen – in Indien etwa soll das neue Kapitaldeckungsmodell für öffentlich Bedienstete nach und nach auch die mehr als 300 Millionen Erwerbstätigen im informellen Sektor erfassen. In China wird vor allem auf Wachstum gesetzt, um das sich verschlechternde Verhältnis von Pensionsberechtigten und Beitragzahlenden in den Griff zu bekommen. Aber die Zahl jener Menschen, die keinerlei Pensionsansprüche erwerben und durch steuerfinanzierte Programme unterstützt werden müssen, wird mit der Alterung der Gesellschaften zweifellos rasch zunehmen.
Beispiele für derartige Programme gibt es bereits. In Namibia, Mauritius und Botswana, wo sie universellen Charakter haben, sind sie nicht nur effektiv in der allgemeinen Armutsbekämpfung (alte Menschen unterstützen mit ihren Pensionen den Rest der Familie), befand die britische Organisation Helpage: Sie sind auch leistbar – die Kosten beliefen sich in Namibia und Botswana auf 0,7 bzw. 0,4 Prozent des BIP. Größeren Umfang haben aber die steuerfinanzierten Transfers an ältere Menschen in Südafrika und Brasilien. Im März 2001 etwa bezogen mehr als sechs Millionen ehemalige LandarbeiterInnen in Brasilien eine monatliche „Pension“ von 108 Dollar (zum damaligen Wechselkurs), bei Kosten von einem Prozent des BIP; in städtischen Gebieten lag die Zahl der Begünstigten bei etwa zwei Millionen. In Südafrika erhielten im selben Jahr etwa 1,8 Mio. ältere Menschen monatliche Zuwendungen von 80 Dollar. Solche Zahlungen, so die Autoren einer britischen Studie (Barrientos/Sherlock, September 2002), könnten den Keim umfassenderer Systeme sozialer Sicherheit insbesondere in den ärmeren Entwicklungsländern darstellen, wo alte Menschen noch im Familienverband leben. Um solche Programme auch in den ärmsten Ländern einzurichten, wären aber wahrscheinlich externe Finanzquellen „entscheidend“, meinen die Autoren – also Mittel aus den reichen Ländern. Bleibt zu hoffen, dass diese das Geld nicht für die eigenen PensionstInnen brauchen.
Umlageverfahren versus Kapitaldeckung
Bei Umlageverfahren werden die laufenden Beiträge der erwerbstätigen Bevölkerung zur Finanzierung der laufenden Pensionen verwendet (Schlagwort „Solidargemeinschaft“). Bei Kapitaldeckung spart jede(r) Erwerbstätige ein individuelles Vermögen für die eigene Altersvorsorge an (Schlagwort „Eigenverantwortung“).